In Wahrheit leben: Der Mut zur ehrlichen Selbsterkenntnis
- Jürgen Justus
- 4. Juni
- 6 Min. Lesezeit
"Der Mensch verträgt nur wenig Wirklichkeit." Dieses Zitat des christlichen Literaturnobelpreisträgers Thomas S. Eliot trifft einen wunden Punkt in unserer Seele. Gerade religiöse Menschen neigen dazu, die Augen vor der eigenen, oft beschämenden Wirklichkeit zu verschließen, weil die Wahrheit zu schmerzhaft erscheint. Doch Jesus verheißt uns: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Johannes 8,32).
Wenn wir uns selbst belügen
"Von allen Formen des Betruges ist der Selbstbetrug der tödlichste," schreibt A.W. Tozer, "und von allen Verführten ist derjenige am wenigsten fähig, den Betrug aufzudecken, der sich selbst verführt!" Die Dynamik der Selbsttäuschung ist subtil und kraftvoll zugleich. Thomas Härry beobachtet: "Viele verdrängen die dunklen Seiten ihrer Seele. Sie verbannen sie aus ihrem Bewusstsein, um sich nicht länger mit ihnen auseinandersetzen zu müssen." Die Folge? "Sie werden von anderen oft als unnatürlich fromme, aufgesetzt fröhliche, letztlich aber unnahbare 'Christen' wahrgenommen."
Diese Selbsttäuschung manifestiert sich auf verschiedene Weise:
Geistliches Versteckspiel: "Mit der Sprache der Bibel vertraut werden, ohne dass man eine echte Offenbarung der Wahrheit empfängt."
Religiöse Rechtfertigung: Verletzungen werden entschuldigt mit der Begründung, man dürfe die Verursacher nicht beschuldigen.
Verdrängte Gefühle: "Statt wirklich zu vergeben, wird jahrzehntelang Sünde und Schuld unter den Teppich falscher Frömmigkeit gekehrt."
Die Kosten dieser Selbsttäuschung sind hoch: blockierte geistliche Entwicklung, emotionale und physische Erkrankungen, und letztlich der Verlust der Freiheit zur Veränderung. Fulbert Steffensky warnt: "Ohne Erkenntnis der eigenen Sünde setzt man sich selber fort, bis die letzte Freiheit verspielt ist."
Biblische Spiegel: Von denen, die sich nicht stellen wollten
Die Bibel ist voll von Menschen, die sich mit ihren dunklen Seiten konfrontieren mussten:
David: Ein Jahr lang leugnete und vertuschte er seinen Ehebruch mit Batseba und den Mord an Uria. Erst als der Prophet Nathan ihn mit einem Gleichnis konfrontierte, erkannte er seine Schuld und betete: "Du großer, barmherziger Gott, sei mir gnädig, hab Erbarmen mit mir!" Seine Geschichte zeigt, wie Gott uns manchmal mit den Konsequenzen unserer Handlungen konfrontiert – in Davids Fall durch den Aufstand seines Sohnes Absalom.
Jona: Er versuchte, Gottes Ruf zur Mission zu entkommen und "lief vor Gott davon". Thomas Härry beschreibt ihn als jemanden, der "vorzeitig seinen Dienst quittiert und versuchte, Gott davonzulaufen". Im Bauch des Fisches musste er schließlich Gehorsam lernen.
Petrus: "Petrus tönte große Sprüche und hat seinen Freund und Herrn letztlich verleugnet." Sein Selbstvertrauen reichte nicht aus, um der Furcht zu widerstehen – nach außen mutig, gab er dem leisen Druck einer Magd nach.
Diese biblischen Gestalten zeigen nicht nur ihr Versagen, sondern auch den Weg zur Wiederherstellung. Ihre Geschichten ermutigen uns, ehrlich mit unseren eigenen Schwächen umzugehen.
Die befreiende Kraft der Wahrheit
A.W. Tozer betont die moralische Dimension der Wahrheit: "Eine theologische Tatsache wird nur zu einer geistlichen Wahrheit, wenn sie mit einem demütigen Herzen aufgenommen wird! In der Bibel ist Erkenntnis eine Art Erfahrung, und Weisheit ein moralisches Übereinstimmen."
Richard Foster unterscheidet zwischen destruktiver Selbstverachtung und heilsamer Selbstverleugnung: "Selbstverachtung bringt zum Ausdruck, dass wir keinen Wert besäßen... Selbstverleugnung hingegen zeigt uns, dass wir von unendlichem Wert sind, und lässt uns erkennen, wie wir ihn einsetzen können."
Der Heilige Geist spielt bei dieser Selbsterkenntnis eine entscheidende Rolle: "Er führt uns nicht nur in alle Wahrheit über die Schrift, sondern auch in die Wahrheit über uns selbst, unsere Kinder, unsere Gesundheit, unsere Umstände und vieles mehr."
Praktische Schritte zur ehrlichen Selbstprüfung
1. Das Einüben der Selbstreflexion
Timothy Keller empfiehlt "regelmäßige Zeiten der Selbstprüfung anhand biblischer Texte, die zeigen, was ein Christ sein und wie er leben sollte." Eine Methode ist das Meditieren über die Zehn Gebote, "wobei der Meditierende darüber nachdenken sollte, wie er jedes der Gebote in Gedanken, Worten oder Werken gebrochen hatte."
Michelle van Dusseldorp betont: "Wenn wir uns täglich der Realität und den geistlichen
Gesetzen stellen, die im Leben wirksam sind, lernen wir auch, unsere Überzeugungen daran anzupassen. Und langsam, aber sicher verschwindet die falsche 'Realität' und macht Platz für Wahrheit."
2. Die Kraft der Gemeinschaft
Ehrliche Selbstprüfung geschieht nicht im Vakuum, sondern benötigt vertrauensvolle Beziehungen. Peter Zimmerling warnt: "In der christlichen Seelsorge ist manchmal zu beobachten, dass der einfache Weg des Gebets gesucht wird. Es klingt so schön verlockend, nur zu beten und dann ist alles anders. Jesus ist aber nicht als unser Wunschbaum gekommen, sondern damit wir unser Denken erneuern."
Manfred Engeli empfiehlt "die Kunst der kleinen Schritte": "Der Klient soll die Erfahrung machen, dass Veränderung möglich ist, dass er in Neues eintreten kann, dass der Weg nach vorne offen ist, wie seine Vergangenheit auch gewesen sein mag."
3. Den Fokus auf Jesus richten
Wahre Selbsterkenntnis ist letztlich nur möglich, wenn wir unseren Blick auf Jesus richten, "den Anfänger und Vollender unseres Glaubens" (Hebräer 12,2). Selbstprüfung kann zu Selbstanklage oder Selbstrechtfertigung werden, wenn sie nicht in der Betrachtung Christi verankert ist. Thomas Härry schreibt: "Die befreiende Kraft zur Veränderung kommt nicht aus unserer Selbstanalyse, sondern aus der Beziehung zu Jesus Christus."
Bei jeder ehrlichen Selbstprüfung sollte die Frage im Mittelpunkt stehen: "Wie sieht Jesus mich?" W. Ian Thomas betont: "Wir können nur dann klar sehen, wer wir wirklich sind, wenn wir zuerst klar sehen, wer Er ist." Diese christuszentrierte Selbsterkenntnis bewahrt uns vor Selbstgerechtigkeit einerseits und Selbstverurteilung andererseits.
Eine praktische Übung: Bevor du mit der Selbstprüfung beginnst, nimm dir Zeit, über eine Eigenschaft oder Handlung Jesu zu nachzudenken. Lass dich von Seinem Vorbild, Seiner Gnade und Seinem vollkommenen Charakter beeindrucken. Aus dieser Betrachtung heraus wird deine Selbsterkenntnis nicht zu Verzweiflung führen, sondern zu einer liebevollen Einladung, mehr wie Er zu werden.
4. Konkrete Übungen
Psalm 139,23-24 persönlich beten: "Durchforsche mich, Gott, sieh mir ins Herz, prüfe meine Wünsche und Gedanken! Und wenn ich in Gefahr bin, mich von dir zu entfernen, dann bring mich zurück auf den Weg zu dir!"
Das Lebenstempo drosseln: "Zeit zu schaffen, in der wir mit Gott in Verbindung treten und in seinem Wort wachsen. Unnötige Aktivitäten zu lassen oder einzuschränken ist weit besser, als sein Leben mit Gott herunterzufahren."
Den Wendepunkt erkennen: "Der geistliche Wendepunkt liegt dort, wo der Schmerz darüber, dass sich nichts tut, größer wird als der Schmerz, den Veränderung mit sich bringt."
Von der Erkenntnis zur Veränderung
Mark Batterson schreibt hoffnungsvoll: "Man lässt Schuld los, indem man sich auf Gottes Gnade stützt. Man macht sich nicht mehr selbst fertig, sondern lässt sein Herz vom Geist Gottes heilen. Wir können uns nicht selbst von unserer Vergangenheit lösen, wir sind für immer mit ihr verbunden. Aber Gott möchte uns mit unserer Vergangenheit versöhnen, indem er sie erlöst."
Patrick Knittelfelder und Bernadette Lang betonen: "Von persönlicher Veränderung geht es zu einer heileren Kirche und von da zu einer heileren Gesellschaft. Ein mühevoller Weg. Es ist der Weg der Jüngerschaft und es gibt keine Abkürzung." Sie raten konkret: "Übernimm Verantwortung für dich und dein Leben" und "Beginne, an deinen Baustellen zu arbeiten."
Rainer Harter fordert heraus: "Warten Sie nicht darauf, dass sich 'die Kirche' ändert. Treten Sie selbst aus der Beobachterrolle heraus und werden Sie zu einem Menschen, der Veränderung in Gang setzt. Dazu müssen Sie kein Theologe und kein Experte für Gemeindewachstum sein. Sie brauchen keine besondere Bildung und keine einflussreiche Stellung. Alles, was Sie brauchen, ist Jesus."
Leben in der befreienden Wahrheit
Thomas Härry bietet eine Vision, wie ein Leben in der Wahrheit aussehen kann: "Statt unsere Fehler zu verstecken und unsere Gebrochenheit zu leugnen, stellen wir uns ihnen. Können ehrlich zugeben: 'Hier habe ich einen Schwachpunkt. Hier erkenne ich bei mir diese Form der Unvollkommenheit, den Hang zu diesem oder jenem unguten Verhalten.' Wir können dazu stehen, weil wir die Gnade Gottes kennen, die uns inmitten unserer Unvollkommenheit trägt."
John Sandford bezeugt die befreiende Wirkung dieser Haltung: "Jetzt, da ich mich selbst als durch und durch sündhaft erkannt habe, bleibt mir nichts mehr, was verteidigt werden muss."
Wahrhafte Selbsterkenntnis ist kein Ziel in sich selbst, sondern der Beginn einer Reise zu tieferer Gemeinschaft mit Gott und authentischeren Beziehungen mit anderen. Wie Epheser 5,8 uns erinnert: "Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts."
Der Weg aus der Selbsttäuschung mag schmerzhaft sein, aber er führt zur Freiheit. Hab den Mut, sich von Gottes Licht durchleuchten zu lassen und in der befreienden Wahrheit zu leben, die Jesus verheißen hat. Denn nur wer in der Wahrheit lebt, kann wirklich frei sein und zum Segen für andere werden.
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