Wenn Zeit zur Waffe wird: Die gefährliche Ökonomisierung menschlichen Lebens
- Jürgen Justus
- vor 6 Tagen
- 5 Min. Lesezeit
Eine theologische Auseinandersetzung mit den zeitbasierten Argumenten für Sterbehilfe bei Menschen mit Demenz. Vorsicht, dieser Artikel hat es in sich!
Menschen mit Demenz sind Zeitverschwendung! Lass uns sie einfach töten?
In einem Interview aus dem Jahr 2008 mit dem Magazin „Life and Work" der Presbyterian Church of Scotland machte die renommierte britische Philosophin und Ethikerin Baroness Mary Warnock höchst kontroverse Äußerungen darüber, was ihrer Meinung nach mit Menschen mit Demenz geschehen sollte:
„Wenn du dement bist, verschwendest du das Leben der Menschen – das Leben deiner Familie – und du verschwendest die Ressourcen des Nationalen Gesundheitsdienstes."
Warnock ging noch weiter und schlug vor, dass Menschen mit Demenz ermutigt werden sollten, sich das Leben zu nehmen, und dass der Staat Lizenzen ausstellen sollte, um Menschen mit Demenz „einzuschläfern", da die echte Person nicht mehr da sei und nur noch eine „Hülle" übrig bleibe.
Die Logik der Produktivität
Warnocks Perspektive offenbart eine erschreckende Gleichung: Menschen mit Demenz sind unproduktiv und daher Nicht-Personen. Als solche sind sie ohne Wert oder Würde – eine Bürde. Produktivität, erinnerte Autobiografie, Selbstbewusstsein, Autonomie, kognitive Schärfe und Persönlichkeit werden als untrennbar miteinander verbunden gesehen.
Nicht selbstbewusst und produktiv zu sein bedeutet, aufzuhören, eine Person zu sein; aufzuhören, eine Person zu sein bedeutet, aufzuhören, wertvoll zu sein; aufzuhören, wertvoll zu sein, wird als gerechtfertigte Begründung für das Töten von Menschen betrachtet.
Menschen mit fortgeschrittener Demenz sollen als Belastung für den Staat und ihre Familien betrachtet werden. Sie am Leben zu erhalten wird als Zeitverschwendung und Ressourcenverschwendung proklamiert. Es ist daher nicht nur gerechtfertigt für den Staat, die Gesellschaft von einer solchen Belastung zu befreien; es ist eine moralische Pflicht.
Die grausame Realität
Man könnte auf den ersten Blick geneigt sein, Warnocks Position als extrem abzulehnen. Während ihre Artikulation des Problems recht scharf sein mag, ist die Eliminierung von Menschen mit Demenz und anderen Formen von Behinderung bereits in einigen Teilen von Gottes Schöpfung Realität. Ein Kollege aus Belgien berichtet, dass es in Krankenhäusern tatsächlich spezialisierte Teams gibt, deren Aufgabe es ist, Situationen zu bewerten und die Entscheidung zu treffen, wer an der Sterbehilfe teilnehmen darf oder nicht.
Warnock verleiht etwas, was bereits in verschiedenen Kontexten geschieht, lediglich eine scharfe öffentliche Stimme. Was an dieser Stelle zu beobachten ist, ist die Art und Weise, wie Warnocks Sichtweise eindeutig mit der Ökonomie der Uhrenzeit verbunden ist. Diejenigen, die als unfähig gelten, ihre Zeit produktiv zu nutzen, wird jedes inhärente Recht zu leben abgesprochen. Warum? Weil sie eine wirtschaftliche Belastung für den Staat, eine soziale und relationale Belastung für ihre Familien und eine Belastung für die Zeit von Laien und professionellen Gesundheitspflegern sind.
Richard Dawkins und der seltsame Vorfall des Tweets in der Nacht
Ein zweites Beispiel führt uns in eine weitere Dimension der komplexen Beziehung zwischen Zeit und Wahrnehmungen von Behinderung. Der bekannte Wissenschaftler, „neue Atheist" und Verfechter der biologischen und sozialen Evolution Richard Dawkins sorgte für Schlagzeilen, als er einen Tweet über seine Position zum Wert des Lebens von Menschen mit Down-Syndrom sendete.
Als Antwort auf eine andere Twitter-Nutzerin, die sagte, sie würde vor einem „echten ethischen Dilemma" stehen, wenn sie schwanger mit einem Baby mit Down-Syndrom würde, twitterte Dawkins: „Abtreibung und nochmal versuchen. Es wäre unmoralisch, es zur Welt zu bringen, wenn man die Wahl hat."
Die Rechtfertigung durch Glück
Dawkins verteidigte seinen Tweet später mit einer vermeintlich logischen Argumentation:
„Wenn deine Moral, wie meine, darauf basiert, die Summe des Glücks zu erhöhen und das Leiden zu reduzieren, könnte die Entscheidung, bewusst ein Down-Baby zur Welt zu bringen, wenn man die Wahl hat, es früh in der Schwangerschaft abzutreiben, tatsächlich unmoralisch sein aus der Sicht des Kindeswohls."
Seine „Verteidigung" scheint die Botschaft des Tweets nur etwas eloquenter zu wiederholen. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass seine Ausführung zu suggerieren scheint, dass die Art und Weise, wie wir das Wohl von Kindern sicherstellen sollten, darin besteht, sie zu töten! Man muss kein ausgebildeter Ethiker sein, um den Fehler in einer solchen Argumentation zu erkennen.
Zeit und Behinderung: Die historischen Wurzeln
Sowohl Dawkins' als auch Warnocks Positionen finden ihre Wurzeln in sehr spezifischen Wahrnehmungen und Annahmen über Zeit und Geschichte. Der Kulturhistoriker Douglas Baynton zeigt in seiner Erforschung der Beziehung zwischen Behinderung, Zeit und Eugenik die komplexe historische Verbindung zwischen Zeit und Behinderung auf.
Als geologische Entdeckungen und Evolutionsbiologie popularisiert wurden und die Industrialisierung beschleunigte und weit verbreitet wurde, begannen sich die Wahrnehmungen der Natur der Zeit entsprechend zu verändern. Mit diesen Veränderungen kamen neue Ideen über Behinderung, ihre Wurzeln, Ursprünge und Bedeutung und, bedeutsam, neue Wege, über Menschen mit Behinderungen zu sprechen, die „explizit oder implizit in neuen Arten des Zeitdenkens verwurzelt" waren.
Von Gebrechen zu Handicaps
Zuvor war Behinderung in Begriffen von „Gebrechen" oder „Leiden" beschrieben worden – Bezeichnungen, die Menschen mit Behinderungen mit den Armen, den Älteren, den Kranken und Witwen und Waisen teilten. Solche Menschen wurden in gewisser Weise als Fremde oder Ausgestoßene angesehen, die legitime Empfänger von Fürsorge und Wohltätigkeit waren.
Auf metaphysischer Ebene wurde Behinderung oft als göttlichen Ursprungs wahrgenommen, wobei Sünde und Vorsehung zu den primären leitenden Erklärungsnarrativen gehörten. Die allgemeine Annahme war, dass am Ende solche „menschlichen Unvollkommenheiten beseitigt werden würden", wenn diese Zeit endet und eine neue Zeit zur Vollendung kommt: der Himmel.
Das Leben als Rennen
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, unter dem Einfluss metaphorischen Denkens aus der Evolutionsbiologie, kam das Leben häufig dazu, als „ein Rennen" und später als „Rattenrennen" beschrieben zu werden. Diejenigen, die unglücklich genug waren, nicht effektiv im Rennen konkurrieren zu können, wurden als „im Rennen des Lebens behindert, im Kampf des Lebens behindert oder im Kampf ums Überleben behindert" betrachtet.
Diese Art der Rahmung von Beeinträchtigungen wurde in verschiedene Disziplinen und Perspektiven übertragen. Pädagogen sprachen von behinderten Menschen als „ernsthaft behindert im Rennen des Lebens" oder „durch diesen Defekt behindert im Kampf ums Überleben" und als bedürftig der Hilfe, um „den Kampf des Lebens zu gewinnen."
Die theologische Antwort
In unserer zeitbasierten Bewertung menschlichen Lebens offenbart sich eine fundamentale Perversion des christlichen Verständnisses von Zeit und Würde. Wenn Zeit zu einem Maßstab für menschlichen Wert wird, wenn Produktivität zur Grundlage der Persönlichkeit erhoben wird, dann haben wir uns weit von dem entfernt, was es bedeutet, nach Gottes Ebenbild geschaffen zu sein.
Die Diskussion um Sterbehilfe bei Menschen mit Demenz ist nicht nur eine ethische Debatte – sie ist ein Kampf um konkurrierende Verständnisse von Zeit selbst. Diejenigen, die das Leben von Menschen mit Demenz als „Zeitverschwendung" betrachten, operieren innerhalb einer Uhrenzeit-Mentalität, die menschlichen Wert an Produktivität und kognitiver Leistungsfähigkeit misst.
Das christliche Verständnis von Zeit jedoch – Gottes Zeit – bietet eine radikale Alternative, in der jeder Moment als Geschenk Gottes verstanden wird und jedes menschliche Leben als kostbar gilt, unabhängig von seiner Fähigkeit, produktiv zu sein oder sich an die Vergangenheit zu erinnern.
Dieser Artikel basiert auf John Swintons Werk „Becoming Friends of Time: Disability, Timefullness, and Gentle Discipleship" (Baylor University Press, 2016)
Comments