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Sollen alle Christen in Zungen reden? Über die Gabe der Zungenrede und ihre Auslegung

  • Jürgen Justus
  • 30. Apr.
  • 8 Min. Lesezeit

Teil 5 unserer Blogreihe über das Verständnis geistlicher Gaben


Dieses Thema liegt mir besonders am Herzen – nicht nur aus theologischem Interesse, sondern weil ich in diesem Bereich besonders viel Freisetzung, Verunsicherung, Freude und auch Trauer zugleich erlebt habe. Kaum eine Gabe hat in Gemeinden so viel Hoffnung entfacht, aber auch so viele Fragen aufgeworfen wie die Zungenrede. Deshalb ist es mir wichtig, hier nicht nur biblisch sauber zu argumentieren, sondern auch eine Brücke zu schlagen zu unseren realen Erfahrungen im geistlichen Leben.


Gleichzeitig möchte ich betonen: All unsere Erkenntnis ist Stückwerk (vgl. 1. Korinther 13,9). Vieles, was wir heute glauben oder lehren, ist eine Momentaufnahme auf dem Weg mit Gott. Deswegen bleibt es entscheidend, demütig zu bleiben – offen dafür, dass der Heilige Geist uns weiterführt, korrigiert und tiefer in die Wahrheit hineinwachsen lässt. Nicht unsere perfekte Theologie, sondern unsere Liebesfähigkeit und unsere Bereitschaft, auf Gottes Stimme zu hören, sind das, was am Ende zählt.


Eine der am häufigsten diskutierten Fragen im Zusammenhang mit geistlichen Gaben lautet: "Möchte Gott, dass alle Christen in Zungen reden?" Während diese Frage für manche Christen kaum der Rede wert erscheint, ist sie für andere von enormer Bedeutung für ihr geistliches Leben. In seinem tiefgründigen Werk "Understanding Spiritual Gifts" widmet Sam Storms dieser Frage und dem damit verbundenen Thema der Auslegung der Zungenrede ein ganzes Kapitel.


Die Debatte: Will Gott, dass alle in Zungen reden?


Die Worte Jesu in Markus 16 - Ein starkes Argument für universelle Zungenrede

Bevor wir uns den verschiedenen theologischen Positionen zuwenden, sollten wir einen direkten Blick auf die Worte Jesu selbst werfen. In Markus 16,17-18 lesen wir:

"Diese Zeichen aber werden denen folgen, die glauben: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden; sie werden Schlangen aufheben; und wenn sie etwas Tödliches trinken, wird es ihnen nicht schaden; Kranken werden sie die Hände auflegen, und sie werden gesund werden."

Diese Aussage verdient besondere Aufmerksamkeit aus mehreren Gründen:

  1. Jesus verwendet eine klare, kategorische Formulierung: "Diese Zeichen werden denen folgen, die glauben." Es ist keine optionale oder bedingte Aussage.

  2. Die griechische Konstruktion bezieht sich auf "die, die glauben" - also auf alle Gläubigen als Gruppe, ohne Unterscheidung oder Einschränkung.

  3. Diese Verheißung ist Teil des großen Missionsauftrags - einer der grundlegendsten Aussagen über die Natur der nachösterlichen Gemeinde.

  4. Das "Reden in neuen Sprachen" wird als normales Zeichen dargestellt, das den Gläubigen folgt - genauso wie die Fähigkeit, Kranke zu heilen oder Dämonen auszutreiben.


Diese Stelle stellt eines der stärksten biblischen Argumente dafür dar, dass das Reden in neuen Sprachen ein normatives Zeichen für alle Gläubigen sein sollte.


Die Argumente aus 1. Korinther

Neben Jesu Worten bietet besonders der 1. Korintherbrief wichtige Perspektiven zu dieser Frage. Diejenigen, die der Überzeugung sind, dass Zungenrede nicht für alle Gläubigen bestimmt ist, verweisen auf folgende Schlüsselstellen:


  1. Die Souveränität des Heiligen Geistes (1. Korinther 12,7-11): Der Heilige Geist teilt die Gaben zu, "wie er will" - dies impliziert eine göttliche Entscheidung, wer welche Gabe erhält.

  2. Die rhetorischen Fragen des Paulus (1. Korinther 12,29-30): "Reden alle in Zungen? Können alle auslegen?" Die grammatikalische Struktur erwartet eine verneinende Antwort: "Nein, natürlich nicht."

  3. Der Vergleich mit anderen Gaben: Wenn wir nicht erwarten, dass alle Christen Apostel, Propheten oder Lehrer sind, warum sollten wir dann erwarten, dass alle in Zungen reden?

  4. Die Parallele zu 1. Korinther 7,7: Paulus' Aussage "Ich wollte, dass ihr alle in Zungen redet" (14,5) könnte als persönlicher Wunsch zu verstehen sein, nicht als göttliche Absicht für jeden.


Auf der anderen Seite gibt es auch in den Korintherbriefen Argumente für die universelle Zungenrede:


  1. Die Aussage des Paulus in 1. Korinther 14,5: "Ich wollte, dass ihr alle in Zungen redet" - ein klarer Ausdruck seines Wunsches.

  2. Die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Gebrauch: Viele charismatische Theologen unterscheiden zwischen der "Gabe" der Zungenrede (für den öffentlichen Dienst) und der "Gnade" der Zungenrede (für die private Anbetung).

  3. Die Parallele zur Prophetie: Paulus fragt rhetorisch "Sind alle Propheten?" (1. Korinther 12,29), sagt aber später: "Ihr könnt alle prophetisch reden" (14,31). Könnte es mit der Zungenrede nicht ähnlich sein?

  4. Der positive Nutzen: Warum sollte Gott eine so erbauliche Gebets- und Anbetungsform irgendeinem seiner Kinder vorenthalten?


Wie passen Markus 16 und 1. Korinther zusammen?

Eine berechtigte Frage ist, wie Jesu Aussage in Markus 16 mit Paulus' rhetorischer Frage "Reden alle in Zungen?" (1. Korinther 12,30) zusammenpasst, die eine verneinende Antwort erwartet.


Hier könnte eine hilfreiche Unterscheidung zwischen zwei Aspekten liegen:


  1. Die grundsätzliche Fähigkeit aller Gläubigen, in neuen Sprachen zu reden (Markus 16,17)

  2. Die spezifische Gabe der Zungenrede als öffentliches Charisma in der Gemeindeversammlung (1. Korinther 12-14)


Paulus' Frage könnte sich auf die öffentliche Manifestation der Zungenrede beziehen, während Jesus von der grundsätzlichen Fähigkeit spricht, die allen Gläubigen zur Verfügung steht, besonders im Kontext des persönlichen Gebets und der Anbetung.


Storms' ausgewogene Perspektive

Sam Storms bietet in seinem Buch eine wohlüberlegte und ausgewogene Sichtweise:

"Es scheint unwahrscheinlich, dass Gott die Gabe der Zungenrede einem seiner Kinder vorenthalten würde, das sie leidenschaftlich und aufrichtig begehrt. Meine Vermutung ist, dass, wenn alle Umstände gleich sind, dein tiefes Verlangen nach dieser Gabe wahrscheinlich (aber nicht sicher) daher rührt, dass der Heilige Geist dein Herz bewegt hat, danach zu streben."

Gleichzeitig erinnert Storms an einen wichtigen Punkt: Es gibt keine andere geistliche Gabe im Neuen Testament, die jemals als eine beschrieben wird, die Gott auf jeden einzelnen Christen übertragen will oder soll. Seine vorsichtige Schlussfolgerung: Es ist nicht unbedingt Gottes Wille, dass alle Christen in Zungen reden. Aber er ist offen dafür, anders überzeugt zu werden!


Interessanterweise scheint Storms in seinem Buch nicht direkt auf Markus 16,17–18 einzugehen, obwohl diese Stelle ein starkes Argument für die universelle Zungenrede darstellen könnte: „Diese Zeichen aber werden die begleiten, die glauben: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, sie werden in neuen Sprachen reden…“ (V. 17).


Aus meiner Sicht ist es etwas schade, dass dieser Vers nicht behandelt wird, da er zumindest eine wichtige Stelle im Gesamtbild der Diskussion darstellt. Natürlich ist Markus 16,17 nicht ohne interpretatorische Herausforderungen – insbesondere im Blick auf die Frage, ob es sich um normativ gemeinte Zeichen handelt oder um beschreibende Begleiterscheinungen. Dennoch hätte eine Auseinandersetzung mit diesem Text dem Argumentationsstrang zusätzliche Tiefe verleihen können.


Die Gabe der Auslegung der Zungenrede

Ein oft vernachlässigter Aspekt dieses Themas ist die Gabe der Auslegung. Sie ist entscheidend für den Nutzen der Zungenrede im öffentlichen Gottesdienst, wie Paulus in 1. Korinther 14,27-28 verdeutlicht:

"Wenn jemand in Zungen redet, so seien es zwei oder höchstens drei, und einer nach dem anderen, und einer lege es aus. Ist aber kein Ausleger da, so schweige er in der Gemeinde und rede für sich selbst und für Gott."

Was die Gabe der Auslegung NICHT ist


  1. Sie ist nicht dasselbe wie die Fähigkeit zur biblischen Textauslegung.

  2. Sie ist nicht die erlernte Fähigkeit, eine Fremdsprache zu übersetzen.

  3. Sie ist nicht unbedingt eine wörtliche Übersetzung.


Was die Gabe der Auslegung IST

Storms definiert die Gabe der Auslegung als "die vom Geist ermöglichte Fähigkeit, eine ansonsten unverständliche öffentliche Äußerung in Zungen zu verstehen und zu kommunizieren, zum geistlichen Nutzen der gesamten Gemeinde."


Diese Auslegung kann verschiedene Formen annehmen:


  1. Eine wörtliche, Wort-für-Wort-Wiedergabe

  2. Eine flüssigere Wiedergabe des Wesentlichen

  3. Eine Kommentierung der Zungenrede

  4. Eine Paraphrase

  5. Eine Zusammenfassung des Kerns


Der Inhalt der Auslegung

Da die Zungenrede, wie Paulus in 1. Korinther 14 beschreibt, in erster Linie aus Gebet, Lobpreis und Danksagung besteht (Äußerungen, die sich an Gott richten), sollten auch die Auslegungen diese Ausrichtung widerspiegeln.


Anwendung für unsere Praxis

Was bedeutet dies alles für unsere Gemeindepraxis? Hier einige praktische Überlegungen, die beide Perspektiven integrieren:


1. Schafft eine Atmosphäre der Erwartung und Akzeptanz

Angesichts von Jesu Worten in Markus 16,17 sollten wir eine Atmosphäre schaffen, in der das Reden in neuen Sprachen als normale Folge des Glaubens erwartet wird – besonders für neue Gläubige. Gleichzeitig sollte niemand unter Druck gesetzt oder abgewertet werden, wenn diese Erfahrung (noch) nicht Teil seines geistlichen Lebens ist.


2. Unterscheidet zwischen privatem und öffentlichem Gebrauch

Ermutigt Kleingruppenmitglieder, die persönliche Dimension des Gebets in Zungen zu erkunden. Der private Gebrauch dieser Gabe unterliegt nicht den strengeren Regeln, die Paulus für öffentliche Versammlungen aufgestellt hat.


3. Haltet euch an die biblischen Richtlinien für den öffentlichen Gebrauch

Wenn Zungenrede in euren Kleingruppentreffen praktiziert wird, befolgt die klaren Richtlinien des Paulus:


  • Nur zwei oder drei sollten in Zungen reden

  • Einer nach dem anderen, nicht gleichzeitig

  • Es sollte immer eine Auslegung folgen

  • Ohne Auslegung sollte man in der Öffentlichkeit schweigen


Dabei ist wichtig zu unterscheiden: Paulus spricht hier vom öffentlichen Gebrauch der Zungenrede im Rahmen einer Versammlung – also von einem hörbaren Beitrag, der für die ganze Gruppe bestimmt ist und darum auch ausgelegt werden muss.


Daneben gibt es das persönliche Beten in Zungen, das viele Christen im Gebet oder in der Anbetung für sich praktizieren. Dieses persönliche Beten ist nicht an dieselben Vorgaben gebunden, da es in erster Linie der eigenen Erbauung dient (vgl. 1. Korinther 14,4) und nicht der kollektiven Verständlichkeit.


Auch im Rahmen eines Gruppentreffens kann dieses Beten in Zungen seinen Platz haben – etwa so, wie wir manchmal auch einfach für uns beten oder in stiller Anbetung verweilen, ohne dass andere direkt involviert sind. Wichtig ist, dass dies nicht zur Verwirrung führt oder unklar bleibt, ob es sich um einen Beitrag zur Gruppe oder um ein persönliches Gebet handelt.


4. Betet um die Gaben der Zungenrede und der Auslegung

In Anbetracht von Jesu Verheißung und Paulus' Ermutigung (1. Korinther 14,13) sollten wir aktiv um beide Gaben beten – sowohl für uns selbst als auch für andere in der Gruppe.


5. Schafft Raum für praktisches Üben

Bietet sichere Gelegenheiten, wo Menschen diese Gaben erkunden und üben können – ohne Angst vor Kritik oder Beurteilung. Dies könnte in kleineren Gebetskreisen innerhalb eurer Gruppe geschehen.


6. Prüft die Auslegungen

Obwohl Paulus dies nicht ausdrücklich sagt, ist es vernünftig anzunehmen, dass Auslegungen ebenso geprüft werden sollten wie prophetische Äußerungen (1. Korinther 14,29).


Ein praktisches Beispiel für Kleingruppen

Eure Kleingruppe hat beschlossen, gezielt für das Wirken des Heiligen Geistes zu beten. Nach einer kurzen biblischen Einführung zu Markus 16,17-18 und 1. Korinther 12-14 nehmt ihr euch Zeit für Gebet. Johannes fühlt sich gedrängt, in Zungen zu beten, und tut dies zunächst leise für sich selbst. Als er mehr Zuversicht gewinnt, fragt er, ob er die Gabe auch in der Gruppe ausüben darf. Nach seiner kurzen Äußerung in Zungen teilt Elisabeth einen Eindruck mit: "Ich glaube, dies war ein tiefes Dankgebet für Gottes Treue in schwierigen Zeiten." Mehrere Gruppenmitglieder bestätigen, dass diese Auslegung bedeutsam für ihre aktuelle Situation ist. Zwei Teilnehmer, die noch nie in Zungen gesprochen haben, bitten um Gebet, diese Erfahrung ebenfalls machen zu können.


Fazit: Eine erwartungsvolle, aber ausgewogene Sicht

Das Thema der Zungenrede vereint scheinbare Gegensätze: Die klare Verheißung Jesu in Markus 16, dass das Reden in neuen Sprachen ein Zeichen ist, das den Gläubigen folgt, und die differenziertere Darstellung bei Paulus, der von einer souveränen Verteilung der Gaben spricht.


Eine ausgewogene Position würde beide Perspektiven anerkennen:

  1. Das Reden in neuen Sprachen ist ein normatives Zeichen für Gläubige, besonders im Kontext der persönlichen Anbetung und des Gebets.

  2. Die öffentliche Gabe der Zungenrede mit Auslegung in der Gemeindeversammlung scheint nicht jedem gegeben zu sein.

  3. Der Heilige Geist ist sowohl souverän in der Verteilung seiner Gaben als auch großzügig gegenüber denen, die aufrichtig um diese Gaben bitten.


Für unsere Kleingruppen bedeutet dies, dass wir eine Kultur schaffen sollten, die das übernatürliche Wirken des Heiligen Geistes sowohl erwartet als auch respektiert – ohne gesetzliche Forderungen oder Uniformität zu erzwingen. Wir können gleichzeitig glauben, dass das Reden in neuen Sprachen ein normales Zeichen für Gläubige ist, und anerkennen, dass der Heilige Geist in seinem Timing und seiner Weisheit handelt.


Ob Gott möchte, dass alle in Zungen reden oder nicht – sein übergeordnetes Ziel ist immer die Erbauung des Leibes Christi in Liebe. Daher laden wir alle ein, für diese Gabe offen zu sein, danach zu streben und, wenn sie empfangen wurde, sie zum Wohl der Gemeinschaft einzusetzen.


Reflexionsfragen für deine Kleingruppe

  1. Wie verstehst du die Worte Jesu in Markus 16,17 im Licht der Aussagen des Paulus in 1. Korinther 12-14?

  2. Welche Erfahrungen hast du persönlich mit der Gabe der Zungenrede gemacht? Wenn du diese Gabe nicht hast, wie stehst du dazu?

  3. Wie können wir in unseren Kleingruppen eine Atmosphäre schaffen, die geistliche Gaben wie die Zungenrede fördert, ohne dass sich jemand unter Druck gesetzt oder ausgeschlossen fühlt?

  4. Wie würdet ihr als Gruppe reagieren, wenn jemand den Wunsch äußert, die Gabe der Zungenrede zu empfangen? Welche praktischen Schritte könntet ihr unternehmen, um dieser Person zu helfen?

  5. Wenn du die Gabe der Zungenrede hast – hast du jemals um die Gabe der Auslegung gebetet, wie Paulus es empfiehlt? Was war deine Erfahrung?


"Diese Zeichen aber werden denen folgen, die glauben: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben; sie werden in neuen Sprachen reden." (Markus 16,17)


"Wenn jemand in einer Sprache redet, soll es durch zwei oder höchstens drei geschehen, und zwar nacheinander, und einer soll es auslegen. Ist aber kein Ausleger da, so soll er schweigen in der Gemeinde und soll für sich selbst und für Gott reden." (1. Korinther 14,27-28)



Dieser Artikel ist Teil einer Blogreihe über geistliche Gaben, basierend auf dem Buch "Understanding Spiritual Gifts" von Sam Storms.

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